EurActiv (25.06.2018) Derzeit tagen die EU-Sozialminister zu sozialen Rechten auf dem Arbeitsmarkt. Dabei fällt bitter auf, dass gerade im Sozialstaat Deutschland die Karriere noch immer stark von der Herkunft abhängt. Woran liegt das, was kann man tun?
Derzeit tagen die EU-Sozialminister zu sozialen Rechten auf dem Arbeitsmarkt. Dabei fällt bitter auf, dass gerade im Sozialstaat Deutschland die Karriere noch immer stark von der Herkunft abhängt. Woran liegt das, was kann man tun?
Sechs Generationen, liest man diese Woche in den Medien, so lange dauert es in Deutschland, bis sich eine einkommensschwache Familie bis zum Durchschnitt hochgearbeitet hat. Das ist erschreckend lange, in skandinavischen Ländern dauert es zwei, höchstens drei Generationen. Die neu erschienene Studie der OECD, aus der das hervorgeht, zeigt ein deprimierendes Bild auf: viele westeuropäische Staaten schneiden bei der Chancengleichheit nicht besonders gut ab. Selbst in Deutschland, mit seinem verhältnismäßig starken Sozialstaat und freien Bildungssystem, gilt: wer arm geboren ist bleibt meist arm, Reiche bleiben reich.
Wenn die EU-Sozialminister heute in Luxemburg tagen, wird es auch um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt für alle gehen. Die europäische Säule sozialer Rechte soll vorangetrieben werden. In diesem Zusammenhang fällt die Tatsache, dass selbst im wohlhabenden Deutschland die Chancen auf dem Arbeitsmarkt so stark von der Herkunft abhängt, schmerzhaft auf.
Ein geteiltes Schulsystem und Minijobs verstärken soziale Schranken
Von den deutschen Niedrigverdiener – das sind die 20 Prozent der Bevölkerung mit geringstem Einkommen – kommen fast 60 Prozent niemals aus ihrer Einkommensklasse heraus. Gleichzeitig wird fast jedes zweite Kind einer Führungskraft später selber Führungskraft. Am oberen Ende der Einkommensskala herrscht nämlich ebenfalls Stagnation, 74 Prozent der Einkommensstärksten rutschen nie ab. Auch wenn sich ähnliche Trends in anderen zentralen EU-Staaten zeigt, sind einige Faktoren inhärent im deutschen System begründet.
„Ich finde die Ergebnisse erschreckend – aber nicht überraschend“, meint Sabine Zimmermann, die Vorsitzende des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke im Bundestag. Schon Kindern würden in Deutschlands Schulsystem Wege verbaut, indem sie im Alter von zehn Jahren in getrennte Schulformen kategorisiert werden.
Später im Job wird es nicht einfacher: Im deutschen Arbeitsmarkt nimmt die Zahl tarifgebundener Stellen seit langem ab, stattdessen ist der Markt geprägt von prekären Arbeitsverhältnissen wie Kurzzeitverträgen, Minijobs oder Leiharbeit.
„Leiharbeit teilt unsere Gesellschaft in Arbeiter erster und zweiter Klasse. Sowas gehört abgeschafft“, fordert Zimmermann. Prekäre Arbeitsbedingungen erschweren laut OECD den beruflichen Aufstieg deutlich, denn wer gleich mehrere Jobs ausübt, kann sich beruflich kaum entwickeln. In Deutschland sind 3,2 Millionen Menschen mehrfachbeschäftigt, wie die Bundesregierung im Oktober bekanntgab. Das zeigt sich in der Statistik. Nirgendwo sonst haben Menschen der unteren Einkommensklasse so schlechte Karten, trotz Job die Einkommensleiter aufzusteigen.
Deutschland muss seinen Wohlstand besser verteilen
Was muss also geschehen, um Hürden abzubauen? „Wichtig ist, dass man zweigleisig fährt: es braucht kurz- und langfristige Maßnahmen, um soziale Strukturen aufzulockern“, meint Michael Förster, der Leiter der Sozialstudie. Konkret hieße das eine Reduzierung der Abgaben für Geringverdiener, mehr Anreize zur Vollbeschäftigung, und eine Reform der Erbschaftssteuer, um die Vermögenskonzentration abzumildern.
Langfristig müssten starke Investitionen in frühkindliche Erziehung und Ganztagsschulen, eine Auflockerung des dreigliedrigen Schulsystems und die Reduzierung von Langzeitarbeitslosigkeit umgesetzt werden.
Dass Deutschland längst große soziale Defizite aufweist, weiß auch die Regierung. Der Koalitionsvertrag sieht deshalb massive Investitionen in Familien und Bildung vor. Nächste Woche möchte das Kabinett sein Familienpaket beschließen. Damit sollen Familien um 9,8 Milliarden Euro entlastet und das Kindergeld erhöht werden. Ab 2019 soll ein Teilzeitgesetz den Wiedereintritt in den Arbeitsmarkt regeln. Deutschlands Impulse in der Familien- und Arbeitspolitik seien richtig, meint Förster. Doch Reformen müssen eins im Blick haben: „Das wichtigste bei Strukturreformen ist die Wohlstandsverteilung über die Einkommensklassen hinweg. Wenn wir das nicht hinbekommen, sonst wird die soziale Stagnation noch schlimmer, und dann haben wir ein Problem“.
Gestern haben die EU-Sozialminister sich unter anderem auf eine gemeinsame Linie für Vorschläge zu EU-weiten Mindeststandards für Elternzeit und zu einer besseren Koordinierung der Sozialsysteme geeinigt. Bis die europäische Säule sozialer Rechte allen gleiche Aufstiegschancen auf dem Arbeitsmarkt eröffnet, muss noch einiges mehr getan werden.